Ein Anschlag in Essen

Von Urs Wohlthat

Der Sprengstoffanschlag auf die Essener Sikh-Gemeinde vom 16. April fand augenblicklich ein weltweites Medienecho. Von renommierten Tageszeitungen wie der New York Time, über die britische Boulevardpresse wie Daily Mail bis zur größten englischsprachigen Zeitung in Indien, der Hindustan Times, kennt nun die ganze Welt Essen als Ort eines islamistischen Sprengstoffanschlages. Auch die deutschen Nachrichtenportale berichteten immer wieder von dem laufenden Ermittlungsverfahren und Indizien, die schnell nur in eine einzige Richtung deuteten: Es handelt sich scheinbar um den ersten Sprengstoffanschlag mit islamistischem Hintergrund in Deutschland.

Dabei reagierten die Behörden zügig und auf mehreren Ebenen zugleich. Der Essener Oberbürgermeister, Thomas Kufen (CDU), reagierte bereits einen Tag nach dem Anschlag auf das Informationsgesuch des indischen Generalkonsuls Raveesh Kumar. Dieser äußerte, er habe unbedingtes Vertrauen in die Professionalität der Essener Polizei. Das Vertrauen wurde wohl nicht enttäuscht, denn schon am 20. April nahm die Polizei zwei mutmaßliche Täter fest, ein dritter dringend Tatverdächtiger wurde am 4. Mai festgenommen. Allen drei werden Kontakte zur salafistischen Szene nachgesagt. Mitten im Essener Norden, der jüngst immer wieder in die Schlagzeilen kam, weil dort kriminelle Organisationen mit kurdischen und arabischen Wurzeln immer gewalttätiger werden. Aber während sich die Berichterstattung vor allem auf die Täter konzentriert, wird über die Opfer wenig gesprochen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Sikh in Deutschland als eigenständige Religionsgemeinschaft kaum wahrgenommen werden. Wer sind also nun die Sikh?

Theologisch betrachtet ist der Sikhismus, so die in Deutschland übliche Bezeichnung für die Religion der Sikh, ein Synkretismus aus verschiedenen monotheistischen Religionen. Das heißt, der Sikhismus verband ab seiner Entstehung im Nordindien des 15. Jahrhunderts n. Chr. viele verschiedene Vorstellungen über einen einzigen Gott, der als Weltenschöpfer gilt. Dieser Synkretismus drückt sich zum Beispiel darin aus, dass von den 36 Autoren heiliger Texte der Sikhs nur sechs selber Sikhs waren. Der Rest waren Muslime und Hindus.

Allerdings vermischte der Sikhismus nicht nur Bekanntes zu Neuem. Vielmehr entwickelten die Sikhs auch Ideen, die damals wie heute nicht selbstverständlich für Indien waren. Der Sikismus fällt einerseits auf, weil er das indische Kastensystem ablehnt. Andererseits gelten Frauen Männern gegenüber als gleichgestellt. Den heiligen Schriften nach können Frauen wie Männer daher alle religiösen Funktionen gleichermaßen erfüllen.

Dass die Sikh in Deutschland kaum auffallen dürfte aber in erster Linie nichts damit zu tun haben, dass sie Werte wie Werte wie Gleichberechtigung leben oder insgesamt keine auffälligen Traditionen hätten. Im Gegenteil, die oft bunte Kleidung und insbesondere der traditionelle Dastar, eine Art Turban, fällt bei Sikh-Männern oft auf. Das Tragen des Dastar führte in der Vergangenheit immer wieder dazu, dass Sikh für Muslime gehalten wurden und im Rahmen der zunehmenden Islam-Feindlichkeit beschimpft oder sogar angegriffen wurden. Diese Verwechslung würden viele Sikhs gerne zukünftig aus dem Weg schaffen. Sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, ist ihnen daher wichtig.

Für ihre spärliche Bekanntheit sorgt eher ihre verhältnismäßig geringe Zahl in Deutschland. Indiens viertgrößte Religionsgemeinschaft besteht aus ca. 25 Millionen Mitglieder, von denen vier Fünftel weiterhin in Indien leben. Nur etwa 20 Prozent der Sikh leben in der Diaspora, die meisten davon den USA oder dem Vereinigten Königreich. In Deutschland leben nur etwa 13.000 Sikh, fast alle in westdeutschen Ballungszentren. Auf dem europäischen Festland hat Deutschland damit die größte Diaspora-Gemeinde nördlich der Alpen, die in insgesamt 39 Gurdwaras (Heiligtümer) zusammenkommt.

Um sich ihrer neuen Heimat Essen vorzustellen, feierte die Gemeinde in Essen-Nord trotz des Anschlages am 24. April mit allen Gästen in ihrem Gurdwara. Anschließend gab es eine Prozession in einen anderen Essener Ort kultischer Verehrung: das Hafenstadion. Trotz des Anschlages wollten die Sikh an „Menschlichkeit, Toleranz und Akzeptanz“ glauben, wie auf einem Plakat zu lesen war. Sie wurden nicht enttäuscht. Über das starke Polizeiaufgebot hat sich die Gemeinde dennoch gefreut, wie ihr Vizepräsident Indi Tatla sagte. Immerhin zeigte Essen so auch, dass wir uns um jeden gleichermaßen bemühen. Integration und Gleichberechtigung sind eben keine Einbahnstraßen.