Der Mitgliederentscheid: Gefahr oder Chance?

Dieser Tage waren die SPD-Mitglieder aufgefordert sich für oder wider eine Neuauflage der Großen Koalition zu entscheiden. Viele Beiträge differenzierten die Problematik für uns Genoss*innen sehr gut: Noch einmal in eine Koalition, die uns auf 20 Prozent gedrückt hat? Oder schnelle Neuwahlen bei einem historischen Tiefststand in den Umfragen? Unter allen Berichterstattungen drohte jedoch eine Argumentation der SPD und der Demokratie in Deutschland mehr zu schaden, als zu nützen.

Von Urs Wohlthat 

Dieser Tage waren die SPD-Mitglieder aufgefordert sich für oder wider eine Neuauflage der Großen Koalition zu entscheiden. Dabei sahen sich die 463.723 Genoss*innen von allen Seiten unter Feuer: Internationale Leitmedien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und sogar die New York Times berichteten über den innerparteilichen Diskurs. Viele Beiträge differenzierten die Problematik für uns Genoss*innen sehr gut: Noch einmal in eine Koalition, die uns auf 20 Prozent gedrückt hat? Oder doch schnelle Neuwahlen bei einem historischen Tiefststand in den Umfragen?

Unter allen Berichterstattungen drohte jedoch eine Argumentation der SPD und der Demokratie in Deutschland mehr zu schaden, als zu nützen: Einige Zeitungen aus dem Inland veröffentlichten Meinungsartikel, die keine demokratische Legitimation für das Verfahren der Mitgliederbefragung sahen. Zu diesen Artikeln zählte insbesondere auch ein Artikel von Michael Thulmann in der Zeit Online vom 26. Februar 2018, also in den letzten Tagen der Abstimmung, als mutmaßlich auch viele unentschlossene Genoss*innen noch wankten zwischen Pro, Kontra oder Enthaltung. Damit griff der Artikel vielleicht schwerwiegend in den Prozess politischer Willensbildung ein. Diese Willensbildung aber ist der verfassungsgemäße Auftrag von Parteien!

Warum ist das dramatisch?

Thulmann nennt die langsame Regierungsbildung durch die Mitgliederbefragung ein gefährliches Element für eine Demokratie. Er hält die für ein „kompliziertes, verwundbares System“ und sieht sie in der Gefahr an einer „Überdosis“ Wahlen und Abstimmungen zugrunde zu gehen, weil eine Minderheit so die Mehrheit blockieren könne.

Die Argumentation hat aber einen entscheidenden Haken, lange bevor man sich zu der Frage „wieviel direkte Demokratie wir brauchen“ positionieren müsste: Der Entscheidungsfindungsprozess der SPD für oder gegen die Große Koalition mit den Unionsparteien ist mit dem von 2013 nämlich identisch. Das retardierende Element der Koalitionsbildung, welches der Autor für die Regierungsbildung von 2018 kritisiert, war 2013 aber nicht zu verspüren. Damals ging es mit der Regierungsbildung deutlich schneller. Der Prozess der Willensbildung kann also nicht das Problem sein. Der Autor verpasst sein Thema demnach bereits a priori.

Was verlangsamt also die Regierungsbildung 2017/2018?

Bei den letzten Verhandlungen 2013 gab es keine Verhandlungsrunden mit der FDP vorab. Die FDP war ja so eben aus dem Bundestag geflogen. Heute machen die Liberalen eher den Eindruck als wollten sie zwar gerne regieren, ihr allein entscheidender Chef Lindner aber wollte es nicht. Das kompromisslose und kompromissunwillge Entscheidungsmonopol war also 2017 das verzögernde Element, nicht der innerparteiliche Dialog. Diesen gab es in der FDP 2017 ja nicht.

Aber auch bei der SPD wird die Entscheidung nicht durch das basisdemokratische Prozedere an sich verlangsamt, sondern durch unterschiedliche Bewertung der Inhalte und die absehbaren Konsequenzen. Für die SPD als Partei, die sich progressiv sieht, ist die Koalition mit einer konservativen Partei immer eine Notsituation, weil man aufpassen muss, dass man sich nicht ausbremsen lässt. Dieser Konflikt wird in der Partei diskursiv gelöst. Wir geben uns Zeit den Koalitionsvertrag miteinander zu diskutieren. Die Abstimmung als solche – Versendung, Ausfüllung, Rücksendung und Auszählung der Wahlunterlagen – erledigen die Genoss*innen binnen zehn Tagen; oft sogar schneller, wenn es die Post zulässt. Wir geben uns aber darüber hinaus noch Zeit mit unseren Mandatsträger*innen, in den Ortsvereinen und auf regionaler Ebene Pro und Kontra abzuwiegen.

Auf Grund dieser besonderen Situation brauchte es 2013 erstmals einen Mitgliederentscheid über die Koalition. Dieser war natürlich nicht formaljuristisch notwendig, aber er war ob der Wahrung demokratischer und inhaltlicher Überzeugungen geboten. Das wussten aber alle Diskursteilnehmer – Parteien, interessierte Wähler und insbesondere die Medienvertreter*innen – bereits zuvor. Insofern ist es bestenfalls billige Meinungsmache und schlimmstenfalls Wahlbeeinflussung kurz vor Ende der Abstimmung einen prominent platzierten Meinungsartikel dazu zu verfassen.

Demokratien wird seit ihrer Ersinnung in der Antike vorgeworfen, dass sie zu langsam seien in der Entscheidungsfindung. Das ist ein Topos der Ängstigung der in die Entscheidungsprozesse Eingebundenen gegenüber denjenigen, die künftig partizipieren wollen. Der Duktus dieses Narrativs ist: „Wenn auch ihr künftig mitmacht, wird es für uns alle gefährlicher.“ Mit dieser Argumentation haben zu jeder Zeit Demokratiegegner und Gegner von demokratischen und vor allem demokratisierenden Prozessen Stimmung gemacht gegen die Partizipation der Massen an politischen Entscheidungen. Ja, in Krisen sind manche Instrumente der Entscheidungsfindung, wie sie demokratische Verfassungen vorsehen, zu träge, um zu reagieren. Deswegen kannten bereits antike Verfassungen Notstandsgesetze und -vollmachten. Aber deren rechtmäßigen Einsatz musste man überwachen: Zu leicht konnten sonst Notstände für Machtergreifungen genutzt werden.

Deutschland aber steht heute nicht vor einer Katastrophe. Das Jahr 2017 war ein völlig normales Wahljahr. Allerdings mit einem bisher einmaligen Wahlausgang. Keine der früher üblichen Koalitionen auf Bundesebene ließ sich durchsetzen. Die SPD fuhr das schlechteste Ergebnis seit 1933 ein. Die Partei befindet sich daher in einer Phase der Konsolidierung und Neuausrichtung. Der FDP mag man ähnliches zu Gute halten: Sie will nicht regieren, nur um 2021 ein erneutes Waterloo zu erleben.

Uns Genoss*innen vorzuwerfen, hier gefährdeten wir die Demokratie, weil wir über die Konsequenzen einer erneuten Großen Koalition für die Partei und Deutschland nachdenken, setzt ein bestimmtes Staatsverständnis voraus. Es hieße, dass es besser wäre notfalls gegen die wohl etwa 450.000 Genoss*innen, die kein Mandat innehaben, eine Koalition einzugehen. Und es hieße, dass die Genoss*innen sich in ihren Ortsvereinen, auf Regionalkonferenzen und anderen Plattformen kein Bild über Wirkung und Auswirkung des Vertrages machen könnten.

Damit verabschiedeten wir uns aber von einem wesentlichen Charakterzug aller Demokratien seit der Athenischen: dass nämlich jede*r in der Lage ist alle Ämter auszufüllen. Nicht nur, weil prinzipiell in einer Demokratie alle in jedes Amt gewählt werden können, sondern weil politische Ämter ihren Mandatsträger*innen zwar Fleiß und Willen zur Einarbeitung abverlangen, aber keine prinzipielle Ausbildung voraussetzen. Dass sich dabei nicht nur die Tüchtigeren, sondern auch die besser Ausgebildeten letztendlich durchsetzen, ist dem Wettbewerb um die Ämter geschuldet. Kurz gesagt, wenn einfache Mitglieder nicht über den Inhalt von Koalitionsverträgen verständig diskutieren könnten, wäre unsere Demokratie gescheitert.

Die Debatte innerhalb der SPD belehrt Michael Thulmann aber eines Besseren: Wir können. Und wir haben. Unabhängig vom Ergebnis waren die SPD-Mitglieder in der Lage Argumente beider Seiten gegeneinander abzuwiegen und in angemessener Zeit zu einem Ergebnis zu kommen. Am 4. Februar wird das Ergebnis verkündet werden. Ich habe mich selten so oft und so intensiv über Koalitionsverträge und konkrete politische Inhalte unterhalten, wie in den Wochen der Vertragsverhandlungen. Insbesondere mit Menschen außerhalb der SPD.

Der aktive Diskurs der Genoss*innen wirkt somit in die Bevölkerung hinein. Die Genoss*innen haben erneut bewiesen, wozu die Sozialdemokratie taugt: Sie befreit den Menschen aus seiner Unmündigkeit. Parteien wirken bei der politischen Willensbildung innerhalb ihrer Mitgliedschaft und über ihre Grenzen hinaus in zentraler Weise mit. Parteien können dies nur dann wieder verstärkt tun, wenn sie ihre Mitglieder in den politischen Diskurs stärker einbinden. Der Mitgliederentscheid ist darum als Instrument größerer politischer Partizipation zu bewerten, nicht als Gefahr für die Demokratie.

Der Angriff von Michael Thulmann in der Zeit Online hingegen ist als Angriff auf die politischen Grundrechte die das Grundgesetz formuliert zu werten. Dieses Recht bezieht sich aber nämlich nicht nur auf die exekutiven Gremien der Parteien, sondern auf ihre Gesamtheit. In Deutschland wird politische Meinung aber nicht normativ diktiert, sondern diskursiv geformt. Dass die SPD diesen Auftrag ernster nimmt als alle anderen Parteien ist das Pech fleißiger Anhänger von CDU, FDP, Grünen und vielen anderen. Keiner zwingt jene Parteimitglieder auf die Rechte der SPD- Genoss*innen zu verzichten. Ihre Unmündigkeit ist selbstverschuldet. Dass andere Parteien die Diskurse in ihrem Inneren scheuen transparent zu machen, ist das wahre Problem.